Gendermedizin – Warum Medizin nicht geschlechtsneutral sein sollte

Biologisch sowie psychosozial sind Männer und Frauen nicht gleich, medizinisch werden sie allerdings häufig so behandelt. Schlimmer noch: Oftmals geht die Medizin in Forschung, Lehre, Diagnostik und Therapie zwangsläufig vom Mann aus – mit negativen Folgen für beide Geschlechter!
Gendermedizin als Teilgebiet der Humanmedizin agiert nicht geschlechtsneutral, sondern orientiert sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen von Frauen und Männern. Solch eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Blick nimmt, garantiert eine optimale Versorgung für beide Geschlechter.

In folgendem Artikel befassen wir uns ausführlich mit der Thematik der geschlechtssensiblen Medizin. Was versteht man unter Gendermedizin? Warum ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern gerade in der Diagnose und Behandlung von Krankheiten so wichtig? Darüber hinaus sollen auch historische Aspekte nicht zu kurz kommen. Abschließend möchten wir darlegen, welche Vorteile eine geschlechtsspezifische Medizin für beide Geschlechter bereit hält.

Was versteht man unter Gendermedizin?

Der Begriff Gendermedizin begegnet uns unter anderem auch als geschlechtsspezifische oder geschlechtssensible Medizin. Es geht hier um eine Medizin, die nicht geschlechtsneutral agiert, sondern sich eng an den unterschiedlichen Bedürfnissen von Männern und Frauen orientiert.
Solche Unterschiede sind nicht nur im Hinblick auf Diagnose und Therapie relevant, sondern müssen schon weit vorher in den Blick genommen werden – etwa in Forschung und Lehre beziehungsweise der Ausbildung von Medizinern.

Als Teilgebiet der Humanmedizin nimmt die Gendermedizin sowohl biologisches Geschlecht (Sex) als auch psychosoziales Geschlecht (Gender) in den Fokus, wenn es um Gesundheit beziehungsweise Krankheit geht. Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern erlangen im Hinblick auf Erhaltung und Förderung von Gesundheit Bedeutung.

Gendermedizin als geschlechtssensible Medizin funktioniert stets ganzheitlich. Nicht nur werden biologische und gesellschaftliche Faktoren mit einbezogen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern gelangen ebenso im Hinblick auf Erforschung, Umgang, Diagnose sowie Therapie von Erkrankungen in den Fokus.
Das Ziel einer solchen Medizin, die sich nach den Bedürfnissen von Mann und Frau gleichermaßen richtet, ist stets die optimale medizinische Versorgung BEIDER Geschlechter. Ihren Ursprung hat die Gendermedizin übrigens in den 70er-Jahren, wo sich aus der Frauenbewegung heraus entwickelt hat.

Gendermedizin – zum Unterschied zwischen den Geschlechtern

Warum ist es aber nun gerade in der Medizin so wichtig, dem Unterschied zwischen den Geschlechtern Rechnung zu tragen? Eine geschichtliche Betrachtungsweise bringt hier einen ersten Anhaltspunkt:

Medizin als solche geht historisch stark vom Mann aus. Das hält sich bis heute leider hartnäckig. Mag sie zwar vordergründig geschlechtsneutral agieren, wird der Trugschluss spätestens dann augenscheinlich, wenn man ein wenig genauer hinsieht: Medizinische Forschung (gerade auch in der Testung von Medikamenten) nimmt häufig den Mann als Standard an. Beispielsweise zeigt sich das in der Auswahl von Probanden (dazu später mehr).

Medizin, die vordergründig „geschlechtsneutral“ agiert, stößt allerdings zwangsläufig an Grenzen. Unterschiede zwischen den Geschlechtern können nicht einfach außen vor bleiben. Das führt nämlich zwangsläufig zu Fehldiagnosen oder -behandlungen.
Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten zwischen Mann und Frau müssen demnach ganzheitlich betrachtet werden, um eine optimale Versorgung zu sichern.

So unterscheiden sich die Geschlechter schon alleine biologisch in vielerlei Hinsicht. Hormonelle Verschiedenheit sowie Unterschiede in Organsystemen, Körperfunktionen sowie Stoffwechsel sind hier zu nennen. Doch auch im Hinblick auf ihre Verhaltensweisen sind Mann und Frau verschieden. Nicht nur reagieren sie auf Einflüsse von außen unterschiedlich, auch das Gesundheits- und Risikoverhalten unterscheidet sich.

Kein Wunder also, dass Krankheiten bei Frauen und Männern unterschiedlich verlaufen und auch Reaktionen auf therapeutische Maßnahmen stark variieren können. Studien zeigen auf, dass es im Hinblick auf Diagnose und Behandlung sogar einen Unterschied macht, ob der Patient einem Arzt oder einer Ärztin gegenüber sitzt.

Mit Nachdruck darf also behauptet werden, dass Medizin in keinem Fall geschlechtsneutral ist. Demnach – so Anhänger der Gendermedizin – sollte sie auch nicht so agieren.

Medizin ist nicht geschlechtsneutral – und sollte so auch nicht agieren

Eine vermeintlich geschlechtsneutrale Medizin bringt Nachteile mit sich – und zwar für beide Geschlechter. Insofern ist eine geschlechtsspezifische Betrachtungsweise für Frauen wie Männer von Vorteil.

Besonders gut zeigt sich das, wenn man Diagnose und Therapie unterschiedlicher Erkrankungen in den Blick nimmt. Warum es hier immer wieder zu Problemen kommt, möchten wir uns gerne anhand zweier Beispiele genauer ansehen – vorschnelle Diagnose sogenannter „Frauen- beziehungsweise Männerkrankheiten“ einerseits, medikamentöse Behandlung andererseits.

Gendermedizin kann Fehldiagnosen reduzieren

Ein wesentlicher Nachteil geschlechtsneutraler Medizin ist schon lange bekannt: Wird zwischen den Geschlechtern unzureichend differenziert, ruft das nicht selten Fehldiagnosen auf den Plan – und das kann Frauen wie Männern schaden!

Bei vielen Erkrankungen gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern, was sich häufig in der Symptomatik niederschlägt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Diagnose eines Herzinfarktes. Lange Zeit galt dieser fälschlicherweise als typische Männerkrankheit. Noch heute werden zur Diagnose oftmals jene Faktoren als „klassisch“ herangezogen, die vorrangig auf Männer zutreffen (vor allem: zentrierter Schmerz im Brustbereich) – mit fatalen Folgen!

Ein Herzinfarkt äußert sich bei Frauen nämlich mitunter anders als bei Männern. Hier sind diffuse Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit und Erbrechen sowie ein Gefühl der Erschöpfung vorrangig. So wird ein Herzinfarkt bei Frauen nicht selten falsch als Magenverstimmung oder Kreislaufschwäche diagnostiziert. Die notwendige zeitnahe Behandlung bleibt folgend aus.

Doch auch Männer sind von Fehldiagnosen aufgrund fehlender geschlechtssensibler Vorgehensweise betroffen. So passiert es nicht selten, dass die Diagnose „typischer Frauenkrankheiten“ wie Osteoporose oder Depression leider ausbleibt, da sich die Symptomatik zwischen den Geschlechtern unterscheiden kann.

Gendermedizin: Medikamente wirken unterschiedlich

Dass sich die klassische Medizin stark auf das männliche Geschlecht konzentriert, zeigt sich bereits in der Forschung. Studien, um Medikamente zu entwickeln beziehungsweise deren Wirkung zu untersuchen, weisen in der Regel einen viel zu geringen Anteil an weiblichen Probanden auf.

Das liegt unter anderem darin begründet, dass bei weiblichen Studienteilnehmern häufig die Angst einer Schwangerschaft samt entsprechender Schädigung des Fötus mitschwingt. Mit Schaudern erinnert man sich etwa an den Contergan-Skandal. Solch ein Risiko erscheint vielen Studienleitern als zu hoch. Dass bei einer Vielzahl von Präparaten Erfahrungswerte zur Wirkung während Schwangerschaft und Stillzeit fehlen, mutet demnach nicht weiter verwunderlich an.

Doch auch darüber hinaus bedeutet das Einbeziehen weiblicher Probanden bei Medikamententestungen „Mehraufwand“, den man sich der Einfachheit halber oftmals gleich erspart. Sonst müssten nämlich beispielsweise Schwankungen im Zyklus oder ähnliches berücksichtigt werden.

Das jedoch hat zur Folge, dass ein großer Anteil jener Medikamente, die für Männer und Frauen gleichermaßen zugelassen sind, an Frauen unzureichend erprobt wurde. Was das konkret bedeutet, zeigt sich in der Praxis: Handelsübliche Medikamente wirken bei Frauen und Männern unterschiedlich. Von Aspirin, Cholesterinsenkern, manchen Impfungen oder der Medikation für die Chemotherapie ist das auch gut bekannt.

Oftmals ist die angegebene Dosierung ein Problem oder die Wirkung will sich nicht entsprechend einstellen. Im Gegensatz zu Männern leiden Frauen zudem häufiger an Nebenwirkungen. Kein Wunder, Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben eben auch Unterschiede in der Wirkungsweise diverser Präparate zur Folge.

So benötigen Wirkstoffe beispielsweise länger, um den Verdauungstrakt einer Frau zu passieren. Auch der Abbau durch Enzyme erfolgt bei Männern und Frauen verschieden schnell. Zudem gibt es zwischen den Geschlechtern Unterschiede im Hinblick auf Hormone, Stoffwechsel, Körperfettanteil sowie Körpergewicht. Diese schlagen sich in der Wirkung von Medikamenten nieder.

Was kann Gendermedizin bewirken?

Gendermedizin ist in mehrerlei Hinsicht als ausgesprochen wichtig zu erachten. So darf sie etwa unter dem Aspekt der Gleichstellung betrachtet werden. Frauen profitieren von einer Medizin, die – abseits von Gynäkologie und Geburtshilfe – ihre Individualität und persönlichen Belange in den Blick nimmt.

Doch eine geschlechtsspezifische Medizin kann noch mehr: Sie schafft nämlich Vorteile für Frauen und Männer gleichermaßen. So ist etwa eine geschlechtssensible Vorgehensweise in der Diagnose von Erkrankungen als absolut sinnvoll zu erachten, wie sich anhand oben genannter Beispiele (Herzinfarkt, Depression, Osteoporose) zeigt.
Darüber hinaus können Frauen wie Männer durchaus von Maßnahmen profitieren, die sich beim jeweils anderen Geschlecht bewährt haben. Ein gutes Beispiel hierfür sind Präventionsmaßnahmen im Hinblick auf „weibliche“ Krebsarten. Dass entsprechende Krebsvorsorge im Hinblick auf Brustkrebs oder Gebärmutterhalskrebs effektive Wirkung zeigt, lässt Rückschlüsse auch auf männerspezifische Krebsarten zu.

Abschließend darf betont werden, dass Gendermedizin Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Geschlechtern ganzheitlich in den Blick nimmt. Auf diese Weise erweitert sie den Horizont im Hinblick auf Forschung, Diagnose und Therapie. So schafft Gendermedizin eine passende Medizin für Frauen und Männer gleichermaßen. Unterm Strich garantiert das eine optimale Gesundheitsversorgung – für alle Patienten.