Was früher vorwiegend Modemagazinen und Werbung geschuldet war, hat in den letzten Jahren Social Media übernommen: die Rede ist von verzerrter Selbstwahrnehmung. Bildbearbeitungsprogramme und Filter sorgen heutzutage für das perfekte Bild auf Instagram, Snapchat und Co. Die Haut erscheint glatter, die Nase gerade, die Augen größer und die Lippen voller – mit der Realität hat das in vielen Fällen allerdings nichts mehr zu tun. Dennoch eifern viele Menschen solch unrealistischen Schönheitsidealen nach. Die junge Generation ist besonders gefährdet. Wettbewerb, Druck und Selbstzweifel kurbeln den Teufelskreis an. Nicht selten hat das negative Auswirkungen auf Selbstwahrnehmung, Selbstwert und Selbstbewusstsein.
Wann spricht man von verzerrter Selbstwahrnehmung?
Bei einer gestörten Selbstwahrnehmung – in der Fachsprache auch Dysmorphophobie genannt – handelt es sich um eine schwerwiegende psychische Erkrankung, die häufig im Laufe der Pubertät erstmals in Erscheinung tritt. Es darf eine recht hohe Dunkelziffer angenommen werden, da es aufgrund der Symptomatik durchaus zu Fehldiagnosen (Angststörung, Depression,…) kommt. Wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch, sind Übergänge schleichend. Bereits leichte Verzerrungen in Bezug auf die Selbstwahrnehmung sollten daher unbedingt ernst genommen werden. Diese zu erkennen und bewusst gegenzusteuern, kann dazu beitragen, eine Manifestierung der Erkrankung zu verhindern.
Dysmorphophobie ist dadurch gekennzeichnet, dass die krankhafte Vorstellung vorherrscht, hässlich beziehungsweise entstellt zu sein – und das bei objektiv völlig normalem Erscheinungsbild. Betroffene haben das Gefühl, fortwährend angestarrt zu werden und Zielscheibe für Spott und Häme zu sein. In der Regel kommt es zu einer unverhältnismäßig intensiven Beschäftigung mit vermeintlichen Makeln. Der negative Einfluss auf Selbstbild, Selbstwert und Selbstbewusstsein ist immens, was für stetigen Leidensdruck sorgt und die Lebensqualität mitunter stark beeinflusst.
In weiterer Folge stellen sich häufig Ängste, Depression sowie sozialer Rückzug ein. Auch Suizidalität ist bei Dysmorphophobie keine Seltenheit. Die Erkrankung bedarf zwingend einer Behandlung, da sonst das Risiko einer Chronifizierung besteht.
Verzerrungen oder Störungen der Selbstwahrnehmung gelangen aktuell vor allem in Zusammenhang mit Social Media in den Fokus. Es darf als Fakt angenommen werden, dass unser Medienzeitalter mit all seinen technischen Möglichkeiten und Raffinessen Einfluss auf das individuelle Selbstbild nimmt. Wenngleich neue Medien alle Altersklassen ansprechen, scheint die junge Generation besonders gefährdet.
„Snapchat-Dysmorphophobie“ als Problematik unserer Zeit
Ein Team aus Wissenschaftlern der Boston University School of Medicine hat den Begriff der Snapchat-Dysmorphophobie geprägt. Zum ersten Mal taucht dieser in einem Artikel in der Zeitschrift „JAMA Facial Plastic Surgery“ auf, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Verwendung von Fotofiltern in Social Media Kanälen negative Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung haben kann. Entsprechende Tools sind bei vielen Anbietern vorinstalliert und werden eifrig genutzt. So benötigt es nur wenige Handgriffe, um Fältchen zu glätten, den Hüftumfang zu minimieren oder Lippen mehr Fülle zu verleihen. Derart veränderte Bilder transportieren Scheinrealitäten, die mit Tatsachen wenig gemein haben.
Der stetige Vergleich mit gefilterten Fotos schürt Selbstzweifel und wirkt sich negativ auf Selbstwert und Selbstbewusstsein aus. In diesem Zusammenhang durchaus bezeichnend: Mit dem vermehrten Aufkommen von Bildbearbeitung im Rahmen von Social Media ist die Nachfrage an Schönheitsoperationen deutlich gestiegen. Doch längst sind es nicht mehr die Stars und Sternchen, denen nachgeeifert wird, vielmehr treibt etwas anderes Patienten und Patientinnen in die Kliniken: der Wunsch, wie die gefilterte Version ihrer selbst auszusehen!
Snapchat-Dysmorphophobie beschreibt kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Phänomen unserer Zeit. Sehr wohl aber können virtuelle Scheinrealitäten Selbstzweifel schüren sowie Verzerrungen oder Störungen in der Selbstwahrnehmung begünstigen. Eine kritische Betrachtungsweise lohnt sich also in jedem Fall, gerade auch im Hinblick auf Aufklärung und Prävention.
Social Media: Soziales Umfeld im Wandel
Social Media darf und muss als Kommunikationsrealität verstanden werden. Gerade die junge Generation kennt es gar nicht anders, wächst sie doch mit sozialen Netzwerken auf. Der Wandel von einer analogen zu einer virtuellen Interaktion ist demnach schlicht Tatsache. Kommunikation kennt kaum Grenzen und findet mittlerweile so bildlich statt wie nie zuvor. Dass die transportierten – häufig gefilterten – Bilder nicht nur eine Scheinwirklichkeit darstellen, sondern ebenso fragwürdige Normen, Werte oder Rollenbilder vermitteln können, muss dabei im Hinterkopf behalten werden.
Es geht also grundsätzlich darum, kritisch zu bleiben und geteilte Inhalte auf ihren Realitätsgehalt zu prüfen. Keinesfalls sollte Social Media selbst verteufelt werden. Im Gegenteil, sie darf als Lebensrealität verstanden werden – mitsamt den Vor- und Nachteilen, die sie zu bieten hat. Soziale Netzwerke sind eben immer das, was man daraus macht.
Das perfekte Bild: Wettbewerb, Druck und Selbstzweifel
Soziale Medien dienen als Raum für Austausch und Kommunikation. Entfaltung, Auseinandersetzung, Vergleich – schlichtweg Sozialisation – all das findet in sozialen Netzwerken statt. Dass dabei automatisch auch Einfluss auf Selbstbild, Selbstwert sowie Selbstbewusstsein genommen wird, erscheint nachvollziehbar. Insofern wirkt sich Social Media zwangsläufig auch auf die Selbstwahrnehmung aus.
Sind Inhalte solcher Netzwerke stark auf Äußerlichkeiten (Beauty, Fitness,…) bezogen, kann das die eigene Körperwahrnehmung triggern. Die Möglichkeit der Bildbearbeitung heizt dies weiter an. Fotofilter täuschen und sorgen für verzerrte Realitäten. Das Bild, mit dem man sich vergleicht, ist nicht existent. Die Kluft zwischen vermeintlichen Idealen und der Wirklichkeit scheint unüberwindbar. Das schürt Unsicherheiten und erzeugt unbeschreiblichen Druck. Negative Folgen für das eigene Selbst- beziehungsweise Körperbild sind vorprogrammiert.
Darüber hinaus aktivieren positive Rückmeldungen in Social Media Kanälen – sogenannte Likes – nachweislich das Belohnungszentrum im Gehirn. Auf diese Weise kann durchaus ein Suchtverhalten entstehen, was es noch schwieriger macht, sich zu entsagen.
Welche Auswirkungen haben unrealistische Bilder auf Körpergefühl und Schönheitsideal?
Die beschriebene Scheinrealität sorgt dafür, dass vermittelte Ideale im Alltag gar nicht bestehen können. Dennoch setzen sich derartige Schönheitsideale durch und sind fortan präsent. Dass ein solches Ungleichgewicht zwischen Realität und Ideal eine gewisse Dynamik zur Folge hat, scheint nachvollziehbar. Das wiederum schürt Selbstzweifel und kann sich im schlimmsten Fall negativ auf Selbstwahrnehmung, Selbstbild und Selbstbewusstsein auswirken.
Das Gefühl, Vergleichen nicht standzuhalten und geltenden Ansprüchen nicht zu genügen, kann die physische wie psychische Gesundheit gefährden. Dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene hier besonders gefährdet sind, überrascht wenig, befinden sich bei ihnen Selbstwert und Selbstbewusstsein noch im Aufbau.
Auffälligkeiten und Symptome, die sich in diesem Zusammenhang besonders häufig zeigen:
- Extremer Körperkult (bis hin zu Schönheitsoperationen)
- Fitnesswahn
- Essstörungen
- Selbstverletzendes Verhalten
- Zwangsverhalten
- Gefühl der Minderwertigkeit
- Schlafstörungen
- Depressionen/depressive Verstimmungen
- Ängste
- Stress/Nervosität
- Stimmungsschwankungen
- Suchtverhalten/Suchtmittelmissbrauch
- Suizidalität
Vom Umgang mit Scheinwelten in Social Media
Es geht nicht darum, soziale Netzwerke zu verteufeln, sondern darum, einen entsprechenden Umgang damit zu finden. Hierzu ist es notwendig, sich die beschriebene Kluft zwischen Illusion und Wirklichkeit bewusst zu machen. Hinter die Kulissen zu blicken und anzuerkennen, dass vermittelte Ideale nicht der Realität entsprechen, ist ein wesentlicher Schritt. Aufklärung und Prävention schon in jungen Jahren tragen maßgeblich dazu bei, Scheinrealitäten zu entlarven. Zudem geht es darum, sinnvolle Werte und Inhalte im Leben zu finden, die frei von Oberflächlichkeit sind. Sie dienen als Ressource und vermögen es, das Selbstbewusstsein zu stärken.
Verzerrte Selbstwahrnehmung: Aufklärung und Prävention
Aufklärung und Prävention im Hinblick auf neue Medien sollte so früh wie möglich Thema sein. Entsprechende Medienerziehung ist hier wichtig. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, auch künftig kritisch und reflektiert mit Medieninhalten umzugehen.
Wesentliche Tipps und Tricks für die Praxis möchten wir abschließend darlegen:
Wissen schaffen und Aufklärungsarbeit leisten
Worüber man nicht Bescheid weiß, kann man schlicht nicht reflektieren und hinterfragen. Das A&O für einen kritischen Umgang mit Bildern, Normen und Werten, wie sie auf Social Media Kanälen transportiert werden, ist daher Wissen und Aufklärung. Kinder und Jugendliche mit entsprechendem Hintergrundwissen zu versorgen, schafft die Basis für eine kritische Umgangsweise mit Medieninhalten.
Dafür ist es übrigens nie zu spät. Sich derartige Informationen anzueignen macht in jedem Lebensalter Sinn – sei es theoretisch oder praktisch. So kann man zum Beispiel durch den spielerischen Gebrauch von Bildbearbeitungsprogrammen ein Verständnis dafür schaffen, wie einfach es ist, Realitäten zu verzerren.
Auf Vielfalt setzen
Was gefilterten Bildern auf Social Media Kanälen häufig fehlt ist Vielfalt. Diese Gleichtönigkeit trägt maßgeblich zur Bildung von Stereotypen bei und lässt wenig Raum für das Besondere. Vielfalt – also verschiedenste Interessen, Stärken und Begabungen in den Fokus zu nehmen – stellt im Alltag aber eine unheimliche Ressource dar. Zudem vermag sie es, gängige Rollenbilder und Vorurteile aufzubrechen und Platz für Neues zu schaffen. Lebensrealitäten sind eben bunt und vielseitig und genau so dürfen und sollen sie auch präsentiert werden.
Authentizität wahren
Die Nutzung von Social Media Kanälen setzt immer auch eine gewisse Authentizität voraus, die gewahrt werden sollte. Dazu ist es notwendig, sich auch fernab von virtuellen Welten mit sich selbst zu beschäftigen. Wer bin ich? Was macht mich aus? Was gefällt mir und was lehne ich ab? Stärken und Schwächen gelangen hier ebenso in den Fokus wie Vorlieben und Interessen. Auf diese Weise nähern sich die in sozialen Netzwerken geteilten Bilder und Inhalte der Realität wieder etwas mehr an. Die Kluft zwischen Wirklichkeit und Scheinwelt wird kleiner.